Verstärker

Bilanz der letzten Jahre, Wochen oder Tage. Nur um dem Ganzen einen Namen zu geben. Dabei spielt es gar keine Rolle, wie viele Jahre, Wochen oder Tage es in Wirklichkeit sind. Ob vier oder zwei oder kein Ganzes oder 20.

Ich sehe. Verständnis. Bedingt. Mit aber. „Aber dies, aber das.“ Das Aber hört nicht auf in meinem Kopf zu hallen, es ändert aber auch halt nichts. Ermüdend irgendwie.

Erst zuhören, dann verstehen, dann Verständnis haben (oder auch nicht) ist vielleicht die richtige Reihenfolge. Na, was weiß ich schon. Noch nicht mal, ob es überhaupt relevant ist.

Ich fühle. Gefühle, die sich so leise verabschieden, fast vorsichtig und rücksichtsvoll. Sogar ziemlich entschuldigend, dabei können sie doch gar nichts dafür. Fast hätte ich jetzt gesagt, das geht echt zu weit.

Während in der Zwischenzeit andere Gefühle sich doppelt und dreifach zu Wort melden und immer lauter werden. Regelrecht mit dem Finger schnipsen, um endlich mal dranzukommen. Wie aufdringlich.

Als wäre alles im Laufe der Zeit zu einem Verstärker geworden – in alle Richtungen, die ich mir so erdenken kann. Im Erdenken und Zerdenken bin ich sogar manchmal ganz gut.

Wie etwas gesagt wird, aber nicht so gemeint ist. Wie ich etwas meine, aber nicht sage. Und alles verdreht sich schon wieder. Hauptsache, ich kann mir selbst noch folgen, sonst wird es selbst für mich unübersichtlich.

Doppelverstärker.

Ich höre. Es muss dir doch gut gehen. Es muss dir gut gehen, gut gehen, gut gehen. Da ist es wieder, das Echo. Alles andere ist falsch. Es muss dir gut gehen, warum geht es dir nicht gut? Wer beurteilt eigentlich, was richtig oder falsch ist? Wie kann man überhaupt etwas richtig oder falsch fühlen?

(Warum, warum warum. Und wer und was.) Schrill manchmal.

Einfach sein dürfen. Auch in leise. Moment, nicht auch, sondern erst recht. Und erst recht jetzt.

Ohne Begründung.

Gegenüber

Während sie von der anderen Straßenseite auf die blinden Fenster mit den leeren Räumen dahinter starrte, fuhr eine Frau auf einem Skateboard mit Einkaufstüten bepackt an ihr vorbei. Für einen kurzen Moment wandte sie irritiert ihren Blick von dem alten Haus ab und fragte sich, ob der schwarzgekleidete Typ der Fahrerin rechtzeitig ausweichen wird.

Der leere Raum mit den Ledersesseln roch nach Abenden voller Wein und klang nach Lachen. Ernsthaftigkeit neben Leichtigkeit und nichts von beidem widersprach sich. Wenn alles gut ist, dann widerspricht sich das Leben nicht. Es ist nur oft niemals alles gut. Außer dieser eine Moment, der im nächsten Augenblick wieder vorbei sein kann.

Doch der Raum mit den Ledersesseln klang immer noch nach Musik. Der Wein war noch lange nicht leer. Aus den Boxen die Musik, auf dem Bildschirm die Musik. Sie beobachtete ihn von der Seite, wie seine Augen vor Begeisterung strahlten. „Schau nicht mich an, schau dir das an.“ Und dann kam der nächste Moment, einer, der für immer bleibt.

Die Frau mit den Einkaufstüten war längst davon gerollt. Niemand war mehr auf der Straße. Er kam auf sie zu, während sie immer noch auf der anderen Seite stand. „Geh doch rein. Setz dich in den Sessel. Dann kannst du die Musik lauter fühlen.“

In Gedanken betrat sie den Raum und lehnte sich in einem der Sessel zurück. In Wirklichkeit hörte sie jeden Tag einfach nur Musik. Von ihrem Platz auf der anderen Straßenseite. Gegenüber.

Draußen vor dem Hotel

Vier Tische stehen neben dem Eingangsbereich draußen vor dem Hotel. Sie gehören zur Hotelbar und sind alle von Hotelgästen besetzt. Es ist Sommer, Zeit fürs Abendessen, 20 Uhr irgendwas.

An Tisch Zwei sitzt ein Pärchen, vielleicht Anfang dreißig. Während sie sich — zum größten Teil schweigend — gegenübersitzen, warten sie auf ihr Abendessen. Den wenigen Gesprächsfetzen nach könnten sie aber auch Arbeitskollegen sein, ich bin mir nicht ganz sicher. „Der Tisch wackelt“, stellt er plötzlich fest. „Stimmt, der Tisch wackelt.“ Sie schaut ihm zu, während er am wackeligen Tisch wackelt. Der Kellner kommt vorbei. „Können Sie uns bitte einen Bierdeckel bringen?“ Der Kellner schaut ihn fragend an. „Der Tisch wackelt!“ fügt er daraufhin hinzu. Wortlos wackelt nun auch der Kellner am wackeligen Tisch und verschwindet wieder in der Hotelbar. Kurze Zeit später kommt er mit Bierdeckeln wieder. Der Tisch wackelt jetzt nicht mehr, jetzt kann das Essen ruhig kommen. Wieder schweigend essen die beiden ihr Abendessen, direkt danach stehen sie auf und gehen. Vielleicht sind sie doch keine Arbeitskollegen.

Gegenüber an Tisch Drei sitzt alleine ein Mann, so Mitte 50 vielleicht. Sehr ordentlich gekleidet, perfekt gebügeltes Hemd. Vor ihm steht ein fast leeres Weizenbier, er wischt auf seinem Smartphone rum.

(Der Ordnung halber sollte ich wohl an dieser Stelle erwähnen, dass ich an Tisch Eins sitze, wobei die Nummerierung an sich wahrscheinlich überhaupt nicht so wichtig ist, aber irgendeinen Namen musste ich den Tischen ja geben. Vielleicht sind die Tische aus Sicht der Hotelangestellten auch völlig anders nummeriert und in Wirklichkeit sitze ich an Tisch Vier, während das Paar mit dem wackeligen Tisch neben mir an Tisch Drei sitzt.Vielleicht kommt es auch einfach nur darauf an, von welcher Stelle ich oder alle anderen auf diese vier Tische blicken (würden), die übrigens in einem Quadrat angeordnet stehen. Und vermutlich würde jeder Einzelne die Tische auch wieder anders sortieren. Aber das soll jetzt wirklich keine weitere Rolle spielen, sonst komme ich ja selbst durcheinander. Ich sitze also an Tisch Eins.)

Auf einem Stuhl neben dem ordentlichen Mann an Tisch Drei steht eine schwarze Aktentasche. Er schaut kurz vom Smartphone auf, lässt seinen Blick in die Runde schweifen, nimmt seine Aktentasche und geht. Das Bier bleibt. Einige Minuten später kommt er wieder, in der rechten Hand die Aktentasche, die wieder seinen Weg neben ihm auf dem Stuhl findet und diesmal ein Tablet zum Vorschein bringt. Jetzt ist er mit seinem Tablet beschäftigt, er bestellt sich noch ein Weizenbier.

Der Aschenbecher vor dem Hoteleingang brennt. Die beiden Geschäftsreisenden von Tisch Vier sehen es zuerst und informieren den Kellner, bevor sie einen Apfelstrudel mit Vanillesoße bestellt. Alle anderen Gäste schauen ebenfalls fasziniert zum immer mehr qualmenden Aschenbecher. Der ordentliche Mann von Tisch Drei steht zum zweiten Mal auf, nimmt zum zweiten Mal seine Aktentasche und verschwindet in der Hotelbar. Kurze Zeit später steht er vor dem Hoteleingang, kerzengerade, ziemlich bewegungslos, mit seiner Aktentasche in der Hand, wartend. Minuten vergehen, der Aktentaschenmann wartet weiter.

Die Geschäftsreisenden wiederum warten auf ihren Apfelstrudel und kommentieren in der Zwischenzeit lachend den Aschenbecherbrand. Endlich kommt der Kellner mit einem großen Wassereimer. Jetzt brennt der Aschenbecher nicht mehr. Der Aktentaschenmann lächelt zufrieden, setzt sich wieder an seinen Tisch, holt wieder sein Tablet aus der Aktentasche und trinkt beim Lesen sein Weizenbier aus. „Der Koch ist schon weg, Apfelstrudel gibt es heute nicht mehr“, sagt der Kellner im Vorbeigehen zu den Geschäftsreisenden an Tisch Vier. Einer der beiden Apfelstrudelbesteller verzieht enttäuscht das Gesicht, jetzt lacht er nicht mehr.

Mittlerweile sitzt an Tisch Zwei ein anderes Pärchen, schätzungsweise Anfang 20. Sie unterhalten sich angeregt und trinken. Sie trinkt Baileys, er Bier. Viel Baileys, viel Bier. Kurz vor 22 Uhr kommt die Barchefin heraus und verkündet, dass sie nach 22 Uhr nicht mehr draußen bedienen dürften. Es sei ja kein Biergarten hier, erklärt sie, deswegen dürften sie das nicht. Es hätten sich schon mal Anwohner beschwert, erläutert sie weiter, weil sie mal Gäste gehabt hätten, die zu laut waren. Einer der Gäste hatte eine Gitarre dabei, erzählt sie weiter, und alle, ja wirklich alle Gäste und Angestellten hätten plötzlich „Over the Rainbow“ gesungen. „Die Stimmung war so toll an diesem Abend.“ Sie schaut versonnen zu den etwas weiter entfernten Wohnblocks rüber.

„Ich meine“, erzählt sie immer noch weiter, „wissen Sie, ich meine, jeder kennt doch dieses Lied, nicht wahr? Jeder, also wirklich jeder kennt doch dieses Lied und dann diese Atmosphäre dabei, es war Sommer, es war warm – und dann dieses Lied und alle singen mit. Aber die Anwohner riefen die Polizei, es war ihnen zu laut. Jedenfalls dürfen wir ab 22 Uhr keine Getränke mehr nach draußen bringen. Sie müssen dazu in die Hotelbar kommen. Möchten Sie denn noch etwas trinken?“ „Ja“, antwortet der junge Mann mit einem Blick auf seine Begleitung, die ihre Zustimmung durch ein leichtes Kopfnicken zu erkennen gibt, „die Dame und ich möchten auf jeden Fall noch weitertrinken, wir kommen gleich rein.“

Vier Tische stehen neben dem Eingangsbereich draußen vor einem Hotel. Sie gehören zur Hotelbar und sind von keinem Gast mehr besetzt. Die Uhrzeit, die Jahreszeit oder der Tag sind jetzt nicht mehr wichtig. Manchmal ist es einfach nur Zeit. Um aufzuhören. Oder um woanders weiterzumachen.

Loslassen

Herbst bedeutet Veränderung. Die Natur macht es uns vor und zeigt es uns an den Blättern, die sich erst bunt färben und dann verwelkt von den Bäumen losgelassen werden — damit im Frühling etwas Neues wachsen kann. Aber auch, um sich zu schützen. Bäume lassen ihre Blätter nicht ohne Grund fallen. Es ist ein reiner Selbstschutz, um die kalte Jahreszeit mit wenig Wasser besser zu überstehen. Sie trennen sich einfach nur von dem, was ihnen unnötig Energie entzieht und legen damit eine Ruhepause ein. Würden sie ihre Blätter nicht abwerfen, würden sie verdursten oder erfrieren.

Herbst ist die Zeit des Loslassens. Loslassen beinhaltet auch Abschied nehmen. Abschied nehmen vom Sommer, von der Wärme, von den hellen Tagen. Und von Vergangenem. Das kann schon ein bisschen wehmütig machen. Aber loslassen kann lebenswichtig sein. Nicht nur für Bäume, auch für Menschen. Auch für mich. Zu viel Ballast, der sich über einen langen Zeitraum angesammelt hat, erdrückt. Loslassen befreit.

Am Ende des Sommers wird es Zeit, sich auf die kalten Monate vorzubereiten, auf die dunkleren Tage. Ich denke darüber nach, wie ich mich während meiner Ruhepause schützen und neue Kräfte sammeln kann. Aber ich weiß auch, dass trotz Dunkelheit und Kälte noch ganz viele wunderschöne Herbstsonnentage und blaue Winterhimmel kommen werden, die neue Energie bringen. Und vor allem viel Platz für Neues. So wie jedes neue Blatt im Frühling seinen Platz findet.

Die 10 grausamsten Schnulzen aller Zeiten – kommentiert von Paul Fauser

Heute freue ich mich sehr, dass ich Paul Fauser für einen Gastbeitrag gewinnen konnte, in dem er die 10 grausamsten Schnulzen, Schmonzetten, und Schmachtfetzen aller Zeiten kommentiert. Viel Spaß beim Lesen 😉


Schöne Anfrage von Miss Brontë: „Schreibst du mir was, über die deiner Meinung nach grausamsten Schnulzen, die den Weg in dein Ohr gefunden haben?“ Ich bin Ende der 60er-Jahre geboren, viele dieser persönlichen Angriffe kommen daher aus den 80ern oder frühen 90ern. Hier fehlen natürlich einige Verbrechen wie dieser unsägliche „Titanic-Song“ oder auch „Love is all around“. Nach der Zusammenstellung war mir erst mal eine Weile übel oder um es mit Cat Stevens zu sagen: Der Morgen hat gebrochen.

Reality – Richard Sanderson

Die Teens küssten zu „Reality“, dem Titelsong aus der französischen Pubertätskomödie „La Boum — Die Fete“, ab 1981 auf jeder erdenklichen Fete. Anfang 1987 war „La Boum“ dann im deutschen Fernsehen zu sehen, und die nächste Generation Teenager küsste sich die Lippen wund. Die Jungs dachten alle an Sophie Marceau, die Mädchen an ihren pickeligen Engtanzpartner gegenüber. Die Küsse waren allerdings meistens feucht.

Bryan Adams – Everything I do

„Du weißt, es ist wahr, alles was ich tue, ich tue es für dich.“ Schleimiger könnte ein deutscher Schlagertext nicht klingen. Geschrieben 1991 für den Film Robin Hood — König der Diebe, sang sich der „harte“ Rocker Adams in die Herzen des melancholischen Mittelstands.

Simply Red – Holding back back the years

Das Liebeslied der 80er-Jahre-Yuppies. Die Männer hassten Simply Red, den Frauen wurden die Knie weich. Hucknall durfte Catherine Zeta Jones und auch Helena Christensen seine Schmachtballade öfters in privater Atmosphäre vorträllern. Sagt einer, die Stimme sei unwichtig.

George Michael – Careless Whisper

Es ist müßig zu diesem Lied etwas zu sagen. Sicher ist nur, dass beide Geschlechter, wenn sie dieses Lied hören, an feuchte Gefühle zurückdenken. Gott hab George Michael selig.

Chris de Burgh – Lady in Red

Das Stück des kleinen Iren klang irgendwie lahm und blechernd. De Burgh will in diesem Lied einfach nur ausdrücken, dass die Dame an seiner Seite ganz besonders ist. Das zu erkennen, geht vielen Männern ab – de Burgh macht allerdings aus einer grauen Maus eine Prinzessin. Chapeau.

F.R. David – Words don’t come easy

So ziemlich die schlimmste Ballade, die in den Sinnen hängengeblieben ist. Bis heute haben Forscher nicht herausgefunden, warum. Sehr weich, irgendwie sehr nichtssagend — aber man bekommt es nicht aus dem Kopf.

Nino de Angelo – Jenseits von Eden

„Wenn selbst ein Kind nicht mehr lacht wie ein Kind, dann sind wir jenseits von Eden.“ Ich war das erste Mal verliebt und ich durfte nix. Eine der größten Sünden meines Lebens, dass ich hier heimlich die Single gekauft habe. Gottseidank war die Tragetasche neutral, wie später bei Beate-Uhse-Shop-Einkäufen.

Whitney Houston – I will always love you

Lass mich dein Bodyguard sein. Zu der Zeit waren die jungen Damen attraktiv, die nicht in diese Schmonzette gerannt sind. Wenn Nick Hornby den Soundtrack bei einer Dame im Regal gefunden hätte, wäre er aus dem Fenster gesprungen. Ansonsten war Whitney schon klasse.

Andrea Berg – Du hast mich tausendmal belogen

Die Erotik und Macht des deutschen Schlagers ist nicht zu unterschätzen. Ich lauschte in einem Café zwei Rentnern. Der eine sagte: „Wenn ich Andrea Berg
im Autoradio höre, muss ich rechts ranfahren.“ Sein Kollege antwortete: „Ich bin froh, dass ich keinen Führerschein mehr habe.“ Ohne Worte.

Roxy Music – Jealous Guy

Geschrieben von einem der größten Musiker aller Zeiten, John Lennon. In der Version von Roxy Music, das Lied für eine Endlosschleife, wenn man lang und ausgiebig ficken will und vorher schon weiß, dass man nach dem Vorspiel einschläft.


 

Wie jede Woche

Bevor er den Pub betrat, warf er einen kurzen Blick auf das Wochenangebot an der Tür. Es gab Muscheln. Muscheln nach irischer Art. Muscheln nach italienischer Art. Muscheln nach französischer Art. Während er eintrat schob er sich die Sonnenbrille ins Haar und steuerte gezielt den staubigen Regenschirmständer an, in dem er seine Angel abstellen konnte. Ohne einen Blick auf die anderen Gäste zu werfen, setzte er sich an die Bar. Der Wirt sah ihn an und griff wortlos zu einem sauberen Glas.

„Es gibt Muscheln.“ Mit diesen Worten stellte er dem Angler ungefragt ein frisch gezapftes Bier hin.

„Muscheln schmecken zu sehr nach Meer.“ Wie aus dem Nichts fiel am Ende seines Satzes eine Fliege in sein Glas.

„Verstehe.“

Während er die Fliege beobachtete, hörte er die Musik, die im Hintergrund lief.

„Was ist das?“, fragte er den Wirt ohne den Blick von seinem unberührten Glas abzuwenden.

„Es ist meine Musik.“

„Es ist ein Irish Pub. Du solltest irische Musik spielen.“

„Ich spiele die Musik, die ich liebe.“

„Warum spielst du sie?“

„Weil sie sich an das erinnern sollen, was ich geliebt habe.“

„Wen meinst du?“

„Ich meine die, die sich erinnern wollen.“

„Verstehe.“ Der Blick des Anglers fiel jetzt auf das Goldfischglas am Ende des Tresens. „Es wird Zeit. Das Hotel wartet. Ich komme wieder.“

Der Wirt nahm die Angel aus dem Regenschirmständer in der Nähe des Fensters. Von hier aus konnte er die Überreste der alten Textilfabrik am Rande des Stadtweihers erkennen. Für einen kurzen Moment stellte er sich vor, wie eine Rauchwolke aus dem Schornstein aufsteigt. Er entfernte das Plakat mit dem Wochenangebot von der Tür. Muscheln nach irischer Art. Muscheln nach italienischer Art. Muscheln nach französischer Art. Muscheln, die zu sehr nach Meer schmecken. Wie jede Woche.

Wie jeden Tag

Während der Rasenmäherjunge pausenlos schwatzend, sein Handy unter seine Ohrenschützer geklemmt, wieder auf den Aufsitzmäher kletterte und durch den Park in Richtung Herrenhaus fuhr, warf ein schwarzgekleideter Mann am Stadtweiher seine Angel aus und wartete. Nach mehreren vergeblichen Versuchen ging er über die Brücke, um jetzt von der anderen Seite im schattigen Schutz einer Hauswand sein Glück zu versuchen. Durch seine dunkle Sonnenbrille konnte er dabei ungestört die beiden verliebten jungen Frauen beobachten, die sich gegenüber lachend und küssend auf einer Bank in den Armen lagen. Außer einer Angel mit Köder hatte er nichts bei sich.

Zwei Straßen weiter klemmten in der Zwischenzeit zwei Hilfspolizisten routiniert einem falsch parkenden Van einen Strafzettel über beachtliche 379 Euro Bußgeld hinter den Scheibenwischer. Als der alte Pförtner des Herrenhauses das Knattern des näher kommenden Rasenmähermotors hörte, wurde es für ihn Zeit die Mülltonne zum großen Tor zu bringen. Pflichtbewusst wie immer schwang er sich schnell auf sein Fahrrad und zog die schwere Tonne über die lange holprige Zufahrt des größten Anwesens der Stadt. Im Stadtpark lagen inzwischen die Hirsche dösig in der warmen Abendsonne, als ein vorbeirasender schwarzer Van sie für einen kurzen Moment aufschrecken ließ.

Die Kirchturmglocken der protestantischen Kirche und der alten Basilika im Zentrum der Stadt läuteten abwechselnd im Einklang. Sie saß wartend hinter dem linken Fenster des Hotels in der Dachgaube und starrte durch die mit Brettern vernagelten Fenster auf den großen Platz. Neben ihr drehten zwei Goldfische auf einem winzigen Tischchen in ihrem Glas ihre Runden. Wie jeden Tag.