Vier Tische stehen neben dem Eingangsbereich draußen vor dem Hotel. Sie gehören zur Hotelbar und sind alle von Hotelgästen besetzt. Es ist Sommer, Zeit fürs Abendessen, 20 Uhr irgendwas.
An Tisch Zwei sitzt ein Pärchen, vielleicht Anfang dreißig. Während sie sich — zum größten Teil schweigend — gegenübersitzen, warten sie auf ihr Abendessen. Den wenigen Gesprächsfetzen nach könnten sie aber auch Arbeitskollegen sein, ich bin mir nicht ganz sicher. „Der Tisch wackelt“, stellt er plötzlich fest. „Stimmt, der Tisch wackelt.“ Sie schaut ihm zu, während er am wackeligen Tisch wackelt. Der Kellner kommt vorbei. „Können Sie uns bitte einen Bierdeckel bringen?“ Der Kellner schaut ihn fragend an. „Der Tisch wackelt!“ fügt er daraufhin hinzu. Wortlos wackelt nun auch der Kellner am wackeligen Tisch und verschwindet wieder in der Hotelbar. Kurze Zeit später kommt er mit Bierdeckeln wieder. Der Tisch wackelt jetzt nicht mehr, jetzt kann das Essen ruhig kommen. Wieder schweigend essen die beiden ihr Abendessen, direkt danach stehen sie auf und gehen. Vielleicht sind sie doch keine Arbeitskollegen.
Gegenüber an Tisch Drei sitzt alleine ein Mann, so Mitte 50 vielleicht. Sehr ordentlich gekleidet, perfekt gebügeltes Hemd. Vor ihm steht ein fast leeres Weizenbier, er wischt auf seinem Smartphone rum.
(Der Ordnung halber sollte ich wohl an dieser Stelle erwähnen, dass ich an Tisch Eins sitze, wobei die Nummerierung an sich wahrscheinlich überhaupt nicht so wichtig ist, aber irgendeinen Namen musste ich den Tischen ja geben. Vielleicht sind die Tische aus Sicht der Hotelangestellten auch völlig anders nummeriert und in Wirklichkeit sitze ich an Tisch Vier, während das Paar mit dem wackeligen Tisch neben mir an Tisch Drei sitzt.Vielleicht kommt es auch einfach nur darauf an, von welcher Stelle ich oder alle anderen auf diese vier Tische blicken (würden), die übrigens in einem Quadrat angeordnet stehen. Und vermutlich würde jeder Einzelne die Tische auch wieder anders sortieren. Aber das soll jetzt wirklich keine weitere Rolle spielen, sonst komme ich ja selbst durcheinander. Ich sitze also an Tisch Eins.)
Auf einem Stuhl neben dem ordentlichen Mann an Tisch Drei steht eine schwarze Aktentasche. Er schaut kurz vom Smartphone auf, lässt seinen Blick in die Runde schweifen, nimmt seine Aktentasche und geht. Das Bier bleibt. Einige Minuten später kommt er wieder, in der rechten Hand die Aktentasche, die wieder seinen Weg neben ihm auf dem Stuhl findet und diesmal ein Tablet zum Vorschein bringt. Jetzt ist er mit seinem Tablet beschäftigt, er bestellt sich noch ein Weizenbier.
Der Aschenbecher vor dem Hoteleingang brennt. Die beiden Geschäftsreisenden von Tisch Vier sehen es zuerst und informieren den Kellner, bevor sie einen Apfelstrudel mit Vanillesoße bestellt. Alle anderen Gäste schauen ebenfalls fasziniert zum immer mehr qualmenden Aschenbecher. Der ordentliche Mann von Tisch Drei steht zum zweiten Mal auf, nimmt zum zweiten Mal seine Aktentasche und verschwindet in der Hotelbar. Kurze Zeit später steht er vor dem Hoteleingang, kerzengerade, ziemlich bewegungslos, mit seiner Aktentasche in der Hand, wartend. Minuten vergehen, der Aktentaschenmann wartet weiter.
Die Geschäftsreisenden wiederum warten auf ihren Apfelstrudel und kommentieren in der Zwischenzeit lachend den Aschenbecherbrand. Endlich kommt der Kellner mit einem großen Wassereimer. Jetzt brennt der Aschenbecher nicht mehr. Der Aktentaschenmann lächelt zufrieden, setzt sich wieder an seinen Tisch, holt wieder sein Tablet aus der Aktentasche und trinkt beim Lesen sein Weizenbier aus. „Der Koch ist schon weg, Apfelstrudel gibt es heute nicht mehr“, sagt der Kellner im Vorbeigehen zu den Geschäftsreisenden an Tisch Vier. Einer der beiden Apfelstrudelbesteller verzieht enttäuscht das Gesicht, jetzt lacht er nicht mehr.
Mittlerweile sitzt an Tisch Zwei ein anderes Pärchen, schätzungsweise Anfang 20. Sie unterhalten sich angeregt und trinken. Sie trinkt Baileys, er Bier. Viel Baileys, viel Bier. Kurz vor 22 Uhr kommt die Barchefin heraus und verkündet, dass sie nach 22 Uhr nicht mehr draußen bedienen dürften. Es sei ja kein Biergarten hier, erklärt sie, deswegen dürften sie das nicht. Es hätten sich schon mal Anwohner beschwert, erläutert sie weiter, weil sie mal Gäste gehabt hätten, die zu laut waren. Einer der Gäste hatte eine Gitarre dabei, erzählt sie weiter, und alle, ja wirklich alle Gäste und Angestellten hätten plötzlich „Over the Rainbow“ gesungen. „Die Stimmung war so toll an diesem Abend.“ Sie schaut versonnen zu den etwas weiter entfernten Wohnblocks rüber.
„Ich meine“, erzählt sie immer noch weiter, „wissen Sie, ich meine, jeder kennt doch dieses Lied, nicht wahr? Jeder, also wirklich jeder kennt doch dieses Lied und dann diese Atmosphäre dabei, es war Sommer, es war warm – und dann dieses Lied und alle singen mit. Aber die Anwohner riefen die Polizei, es war ihnen zu laut. Jedenfalls dürfen wir ab 22 Uhr keine Getränke mehr nach draußen bringen. Sie müssen dazu in die Hotelbar kommen. Möchten Sie denn noch etwas trinken?“ „Ja“, antwortet der junge Mann mit einem Blick auf seine Begleitung, die ihre Zustimmung durch ein leichtes Kopfnicken zu erkennen gibt, „die Dame und ich möchten auf jeden Fall noch weitertrinken, wir kommen gleich rein.“
Vier Tische stehen neben dem Eingangsbereich draußen vor einem Hotel. Sie gehören zur Hotelbar und sind von keinem Gast mehr besetzt. Die Uhrzeit, die Jahreszeit oder der Tag sind jetzt nicht mehr wichtig. Manchmal ist es einfach nur Zeit. Um aufzuhören. Oder um woanders weiterzumachen.